Gedanken über Freiheit und Transparenz in Zeiten des Coronavirus – wie Lübeck durch Corona steuert

ein Gastbeitrag von Tim Klüssendorf, persönlicher Referent des Lübecker Bürgermeisters

Ein Virus breitet sich aus

Ende Februar bestätigt sich der erste Fall einer Infektion mit dem Coronavirus in der Hansestadt Lübeck. Das Virus ist angekommen – auch bei uns. Zu diesem Zeitpunkt ist die Vorstellung eines Shutdowns zwar noch weit entfernt, dennoch werden in der Stadtspitze bereits mögliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung diskutiert, falls die Ausbreitung in den folgenden Tagen zunehmen sollte. Bis der zweite Infektionsfall in Lübeck bekannt wird, dauert es schließlich rund eine Woche. Es handelt sich um eine Person, die in jüngster Zeit noch zahlreiche Kontakte hatte. Über ein Dutzend der Kontaktpersonen gehen daraufhin unmittelbar in Quarantäne. Allen Verantwortlichen ist zu diesem Zeitpunkt klar, dass die Ausbreitung des Coronavirus nur durch erhebliche und einschneidende Maßnahmen für das öffentliche Leben eingedämmt werden kann. Die internen Überlegungen werden deutlich konkreter. Risiken werden abgewogen, insbesondere zur Durchführung von Veranstaltungen und zur Schließung von Einrichtungen. Alles dreht sich um die Fragen: Wie können Kontakte weitgehend vermieden werden? Was machen Bundes- und Landesregierung?

 

Wer entscheidet denn eigentlich was?

In einer solchen Ausnahmesituation tasten sich auch die Entscheidungsträger*innen langsam an den richtigen Weg heran. Der Weg von der Diskussion zur Umsetzung ist dabei meist der gleiche. Die Bundesregierung und die Landesregierungen diskutieren zunächst für sich und anschließend gemeinsam adäquate Maßnahmen, um der Epidemie zu begegnen. Die Landesregierungen interpretieren die Erkenntnisse dann überwiegend in ähnlicher Form, teilweise leider auch unterschiedlich (besonderes Beispiel hier: Umgang mit den Abiturprüfungen) und gießen konkrete Entscheidungen in Erlasse und Verordnungen. Am Ende der Entscheidungskette steht die Kommune. Hier verfasst der/die Bürgermeister*in in Zusammenarbeit mit den Expert*innen aus den Rechts- und Gesundheitsämtern eine Allgemeinverfügung, welche die Landeserlasse konkretisiert und die Verordnungen ergänzt. Darüber hinaus sind die Kommunen und Städte maßgeblich für die Umsetzung der Regeln und deren Kontrolle durch die Ordnungsämter zuständig – auch das muss organisiert werden. Alle Entscheidungen dieser Kette werden von gewählten Amtsträger*innen getroffen, nicht von den Parlamenten. Trotzdem finden für gewöhnlich informelle Abstimmungen und Rücksprachen mit den politischen Entscheidungsträger*innen im Zuge des Beratungsprozesses statt.

 

Der Wettbewerb um den „härtesten Hund“

Bundesweit gehen die Infektionszahlen ab Mitte März schlagartig nach oben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärt am 11. März die Ausbreitung des Coronavirus zur Pandemie. Mehrfach täglich finden nun Telefonkonferenzen statt – intern sowie mit der Landesregierung – um die aktuelle Lage zu bewerten und Schutzmaßnahmen abzustimmen. Diese kommen in der Folge im Tagesrhythmus: Betretungsverbot für Reiserückkehrer*innen, Verbot von Veranstaltungen über 1.000 Besucher*innen, Schließung von Schulen, Notbetreuung in den Kitas.

Die überwältigende Mehrheit der Gesellschaft ist sich einig, dass die gesundheitliche Fürsorge für den Moment über allen anderen Interessen steht und die anberaumten Maßnahmen vollkommen richtig sind. Die Frage, wie lange dieser Zustand wohl noch so bleiben wird, steht nicht im Mittelpunkt – stattdessen ist im politischen Raum ein wahrer Wettkampf darum entbrannt, wer am „härtesten“ und am schnellsten durchgreift. Kontrahenten sind in erster Linie die Ministerpräsidenten Laschet und Söder, denen mit der Corona-Epidemie ein politisches Handlungsfeld vom Himmel fällt, auf dem nun stellvertretender Weise bewiesen werden muss, wer dieses Land in der Nach-Merkel-Ära besser führen könne. Insbesondere der bayerische Ministerpräsident fällt dadurch auf, die auf Länderebene gemeinsam gefundenen und abgestimmten Kompromisse als erstes gegenüber der Presse und der deutschen Öffentlichkeit zu verkünden, um letztendlich den Eindruck zu vermitteln, dass er voranginge und alle ihm folgen würden – ein politisches Manöver, das Anklang findet.

Zu häufig geht mir jedoch dabei der Gedanke verloren, dass ein „hartes Durchgreifen“ im Sinne der Beschränkung von individuellen Freiheiten niemals etwas Erstrebenswertes sein kann und schon gar nicht gefeiert werden sollte, sondern vielmehr mit maximalem Respekt und einer angemessenen Reflektion begleitet werden muss.

 

Warum Menschen darum bitten, eingesperrt zu werden

Einer der großen Vorteile an der Arbeit im Büro des Bürgermeisters einer deutschen Großstadt ist das direkte Feedback der Bevölkerung. Direkt nach Amtsantritt vor rund zwei Jahren haben der Bürgermeister und ich, als sein persönlicher Referent, darum gebeten, dass wir alle Zuschriften per E-Mail, die an die funktionale Adresse des Rathauses gehen, vor Bearbeitung durch die Kolleg*innen in der Bürgermeisterkanzlei und den Fachbereichen zur Kenntnis bekommen. Dadurch haben wir tagesaktuell einen guten Überblick über die vielfältigen Sorgen und Nöte der Lübecker*innen.

In der aktuellen Zeit können die Zuschriften relativ klar in zwei Gruppen aufgeteilt werden: Menschen, die konkrete Fragen haben und Menschen, die entweder mehr oder weniger bzw. keine Maßnahmen gegen das Virus wollen. Zu meinem eigenen Erschrecken musste ich dabei feststellen, dass die Zahl jener Menschen, die sich für eine totale Beschränkungen des öffentlichen Lebens durch eine rigorose Ausgangssperre aussprechen, ziemlich groß ist.

Dabei erfüllt mich jede Verordnung und jede Verfügung, mit der die Hansestadt Lübeck das Leben ihrer Bevölkerung beschneidet, mit Unbehagen. Die Tatsache, dass der Staat von heute auf morgen und ohne akute demokratische Beschlusslagen aus Parlamenten (vor allem auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes, für das sich noch vor ein paar Wochen wohl niemand wirklich interessiert hat) die Bewegungs- und Handlungsfreiheiten von Menschen in einem derartigen Ausmaß einschränken kann, lässt mich unverändert mit einem flauen Gefühl im Magen zurück – auch wenn ich jede einzelne Maßnahme für sich als notwendig und richtig erachte und unser Staat damit auf der anderen Seite eine kurzfristige Handlungsfähigkeit demonstriert.

 

Immer wieder dienstags…

Unserem Bürgermeister war vom Anfang der Epidemie an deshalb klar, dass in der aktuellen Situation die fast größte Aufgabe darin besteht, die hohe Unsicherheit und das große Informationsbedürfnis der Menschen mit einer umfassenden Öffentlichkeitsarbeit zu befriedigen. So war die Hansestadt Lübeck bereits Anfang März mit einer extra eingerichteten Website am Start, die bis heute unsere zentrale Informationsplattform bildet. Neue Verfügungen und Maßnahmen wurden von uns darüber hinaus aktiv mit Pressearbeit, teilweise über Nacht produzierten Flyer- und stadtweiten Plakatkampagnen, Social-Media-Aktivitäten und YouTube-Videos erläutert und in die Breite kommuniziert.

Unser Anspruch ist, dass jede Frage beantwortet und sich um jedes Anliegen gekümmert wird. Der Aufwand, der dahinter steckt, ist nur durch ein bemerkenswert hohes Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein aller beteiligten Kolleg*:innen möglich, die in den zurückliegenden Tagen und Wochen extrem viel geleistet haben und bereit sind, dies auch weiter zu tun.

Etabliert hat sich auch die Fragestunde mit dem Bürgermeister am Dienstagabend auf der Facebook-Seite der Lübecker Nachrichten. Das erste Video wurde bis heute rund 45.000 mal angesehen – der beste Wert, den die LN jemals mit einem Video erreichen konnten. In diesem Format werden dem Bürgermeister die live in den Kommentaren formulierten Fragen gestellt und direkt und persönlich beantwortet.

 

Was bleibt?

Abgesehen von den vielen Erfahrungen und Ideen, die durch diese Epidemie entstehen – z.B. unvorstellbare Fortschritte in der Digitalisierung, damit verbundene kreative Formen von Kultur und Zusammenleben auch ohne direkten Kontakt, die neue Debatte um Solidarität (innerhalb und außerhalb der eigenen Landesgrenzen -> #LeaveNoOneBehind) oder das zurückkehrende Vertrauen in staatliche Institutionen und handelnde Akteure -, steht für mich auch die Verantwortung für und der Kampf um unsere Freiheit im Vordergrund. Wenn Bewegungsprofile analysiert werden und Bewegungsfreiheiten eingeschränkt sind, Parlamente und Ausschüsse auf allen Ebenen nur eingeschränkt oder sogar gar nicht tagen und Rufe nach starken Führungspersönlichkeiten aus der Mitte unserer demokratischen Gesellschaft immer lauter werden, heißt es unbedingt wachsam zu sein. Wir müssen alles dafür tun, dass unser Leben nach der Epidemie wieder so frei und vielfältig wird, wie es vorher war – mit allen Rechten und Freiheiten und vielleicht sogar noch ein bisschen besser.

 

Tim Klüssendorf ist persönlicher Referent des Lübecker Bürgermeisters und damit seine rechte Hand. Er weiß deswegen, wo die Probleme in der Hansestadt liegen.