Interview “Offene Jugendarbeit während Corona”

Niklas arbeitet seit einigen Jahren für die Stadt Kiel in der Jugendarbeit. Wie er seiner Arbeit in Zeiten von Corona überhaupt nachgehen kann und was die aktuelle Situation mit vielen jungen Menschen macht – darüber haben wir mit ihm gesprochen:

 

Es gibt ja verschiedene Ansätze in der Jugendarbeit. Wie sieht die Arbeit bei dir und deinen Kolleg*innen im Normalfall aus und wo liegen da aktuell die Herausforderungen?

Offene Kinder- und Jugendarbeit versteht sich als informelle Bildungsarbeit. Das bedeutet, dass wir keinen Lehrplan haben und keine Noten vergeben, sondern im Kontakt mit Kindern und Jugendlichen herausfinden wollen, was ihre Themen sind, was sie beschäftigt. Entlang der Interessen der Kinder und Jugendlichen arbeiten wir mit ihnen, aber ohne Erfolgs-, Leistungs-, Konkurrenz- oder Bewertungsdruck. Auch Demokratiebildung ist ein wichtiges Thema.

Gleichzeitig wollen Jugendtreffs ein Freiraum für Kinder- und Jugendliche sein, den diese sich aneignen können, sich ausleben und ausprobieren können. Und auch einfach mal in Ruhe ihre Freizeit verbringen und Spaß haben können.

Ich arbeite wiederum in der Mobilen Jugendarbeit, das heißt dass wir kein festes Gebäude haben, zu dem die Kinder und Jugendlichen kommen, sondern wir die Kinder und Jugendlichen dort aufsuchen, wo sie sich aufhalten, teilweise auch im öffentlichen Raum. Wir sind dann zu Gast in ihrer Lebenswelt und versuchen vor Ort jugendarbeiterisch tätig zu werden.

Herausfordernd ist derzeit, dass wir genau das zumindest in der gewohnten Form nicht tun können. Genau wie Schulen und Kitas sind wir geschlossen. Jugendarbeit lebt aber von der professionellen Beziehung, die mit der Zeit aufgebaut wird, von der regelmäßigen, direkten Begegnung. Wir müssen jetzt versuchen, diese Beziehungen auf anderen Wegen aufrecht zu erhalten und Begegnungen auf anderen Wegen zu ermöglichen, so gut es geht.

 

Machst du die Erfahrung, dass Jugendliche sich trotz der Ausgangsbeschränkungen noch treffen? Was denkst du über die Diskussion zu “Corona-Partys”?

Maximal zu zweit raus zu gehen, ist ja nach wie vor erlaubt, und ich halte es für enorm wichtig, dies von Zeit zu Zeit auch zu tun – nicht nur für Kinder und Jugendliche. Auch psychische Gesundheit ist Teil von Gesundheit. Wenn ich selbst in der Stadt unterwegs bin, habe ich aber zumindest nicht den Eindruck, dass sich deutlich häufiger Kinder- und Jugendliche mit mehr als zwei Personen treffen, als das erwachsene Menschen tun. Sogenannte „Corona-Partys“ sind natürlich daneben, wenn sie stattfinden. Aber auch da ist nicht mein Eindruck, dass das ein wirklich weit verbreitetes Phänomen ist.

 

Was denkst du zu dem Schulausfall?

Als Jugendarbeiter finde ich die Schwerpunkte der öffentlichen Debatte interessant. Es wird viel gesprochen über die in der Tat oft prekäre Situation von Eltern, die weiterhin erwerbsarbeiten müssen, aber keinen Anspruch auf sog. „Notbetreuung“ haben. Kita und Schule werden hier weniger als Bildungseinrichtungen verstanden, sondern zu Betreuungsdienstleiterinnen den Eltern gegenüber.

Ich will die Sorgen und Probleme von Eltern in dieser Lage auch gar nicht kleinreden. Aber ich finde es eben auch relevant, was es mit Kindern und Jugendlichen macht, mit Schule auf (im Gegensatz zur Ferienzeit) de facto unbestimmte Zeit einen ganz entscheidenden Teil ihrer Alltagsstruktur zu verlieren. Bei aller fachlichen Kritik, die Jugendarbeit an der Institution Schule hat: Neben der formellen Qualifikation hat sie eben auch eine soziale Funktion, indem sie Kinder und Jugendliche zusammenbringt, einen zusätzlichen Rahmen schafft für Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung. Insbesondere für geflüchtete Kinder und Jugendliche hat die Schule im besten Fall einen hohen Stellenwert beim Spracherwerb und beim Zusammenfinden mit dem Rest der Gesellschaft.

Mit dem Wegfallen dieser Struktur und auch anderer Strukturen, die hier wichtige Arbeit leisten, wie z.B. Sportvereinen und auch Jugendarbeit, landen Jugendliche schlimmstenfalls in einer sozial relativ isolierten Situation. Gerade wirtschaftlich benachteiligte Familien im städtischen Raum haben in der Regel keinen Zugang zu einem Garten, oft teilen sich Kinder und auch Jugendliche Zimmer mit ihren Geschwistern. Das kann insbesondere in bereits vorbelasteten Familien zu Krisen führen, deren negative Folgen möglicherweise nachhaltiger sind als der verpasste Schulstoff. Gleichzeitig wissen wir, dass ein großer Teil der Hinweise auf Kindeswohlgefährdungen über Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter*innen und Betreuer*innen/Trainer*innen aus Sportvereinen an die Jugendämter gegeben wird. Während also die Lebenssituationen in einigen Familien belastender wird, brechen gleichzeitig wichtige Strukturen weg, die Kindern und Jugendlichen zur Seite stehen könnten.

Darüber hinaus wundere ich mich, dass über Sorgen um die Abiturprüfungen und anschließenden Studienbeginn relativ breit berichtet wurde. Dass Jugendliche, die andere Schulabschlüsse als das Abitur anstreben und nach der Schule nicht studieren gehen, vor den gleichen Unsicherheiten stehen, schien da irgendwie unterzugehen. Auch die offen oder indirekt geäußerten Erwartungen an Eltern, mit Home Schooling-ähnlichem Einsatz den Unterrichtsausfall privat zu kompensieren, halte ich für problematisch. Das ist aus unterschiedlichsten Gründen vielen Eltern einfach nicht möglich. Soziale Ungleichheit wird hier nicht bekämpft, sondern vergrößert.

Neben all diesen Problematiken bin ich mir aber auch sicher, dass es viele Jugendliche gibt, die mit dieser Situation hervorragend klar kommen und den beschränkten Zugriff der Schule auf ihr Leben sowie die Verringerung des schulischen Leistungsdrucks gerade in vollen Zügen genießen. Und genau wie wir in der Jugendarbeit ist Schule gerade gezwungen, auszuloten, inwieweit sie das Internet und andere digitale Tools nutzen kann und will. Ich vermute hinsichtlich der Digitalisierung werden auch im Bereich Schule die Schritte gerade größer und schneller.

 

Mobile Jugendarbeit – Das heißt du und deine Kolleg*innen seid für die Stadt Kiel immer mal an verschiedenen Orten unterwegs, um möglichst viele Jugendliche zu erreichen. Das ist aktuell ja gar nicht möglich, wie sieht dein Alltag zurzeit aus?

Richtig, mit der direkten Face-to-Face-Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist der Kernbestandteil unserer Arbeit komplett weggebrochen. Meine Kolleg*innen und ich sind ins Home Office geschickt worden, ins Büro sollen wir nur, wenn es absolut notwendig ist und dann natürlich nicht gleichzeitig. Wir machen gerade viel konzeptionelle Arbeit, die vorher liegen geblieben ist bzw. nur in viel kleineren Schritten möglich war. Per Videochat bin ich mit meinen Kolleg*innen regelmäßig im Austausch.

Den Verlust des direkten Kontaktes zu den Jugendlichen versuchen wir so gut es geht digital auszugleichen. Wir sind per Messenger im Kontakt, dieser ist aber in unterschiedlichen Gruppen unterschiedlich intensiv. Wir lernen aktuell noch, welche ganz konkreten Bedarf bei unseren Gruppen da sind und wo wir unterstützen können.

Zusätzlich dürfen wir seit kurzem Instragram nutzen, was sehr gut ist. Vorher hatten wir im Social Media-Bereich nur Facebook, was aber bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren keine nennenswerte Rolle mehr spielt. Viele Treffs leisten über Facebook mittlerweile eher Eltern- als Jugendarbeit. Über Instagram erreichen wir auf jeden Fall einen größeren Teil unserer Zielgruppe, lernen aber auch da gerade noch, in welcher Form wir dort attraktiv arbeiten können. Einige Einrichtungen arbeiten hier viel mit Kochanleitungen, Bastelideen usw. .

Aber auch hier merken wir deutlich die Einschränkung, die das mit sich bringt. Im normalen Arbeitsalltag läuft ein großer Teil der Beziehungs- und Bildungsarbeit quasi „nebenbei“ ab. Vordergründig spiele ich mit einem*einer Jugendlichen gerade Karten oder Playstation, wichtiger als das Spiel ist für mich als Sozialpädagoge aber das Gespräch und die Interaktion, die währenddessen läuft. Das Spiel ist nur die Gelegenheit dafür, quasi das Medium. Wenn dieses aber wegbricht, und sich auch nicht digital ersetzen lässt, weil weder Computer noch Spielekonsole zur Verfügung stehen und Handyspiele keinen Voicechat zulassen, sind die Möglichkeiten eingeschränkter, insbesondere bei Jugendlichen, bei denen noch keine lange und intensive pädagogische Beziehung aufgebaut wurde. Aber auch hier sammeln wir noch Erfahrungen. Der komplette Verlust der Face-to-Face-Interaktion ist auch für uns eine neue Situation.

Darüber hinaus halte ich mich als Mitarbeiter im öffentlichen Dienst der Landeshauptstadt Kiel bereit, auch in anderen Bereichen eingesetzt zu werden, wenn die Situation es erforderlich macht.

 

Ein Grundstein deiner Arbeit ist ja die Möglichkeit, auch ein nicht-kommerzielles Freizeitangebot für junge Menschen bereitzuhalten. Hast du einen Eindruck, was mit denjenigen gerade passiert, die dieses Angebot nicht mehr nutzen können?

Durch die beschriebenen Einschränkungen in der Kommunikation kann ich da kein ganz verlässliches Bild zeichnen. Mein Eindruck ist aber bisher, dass diejenigen, mit denen wir Kontakt haben, einigermaßen klarkommen. Es wird sich nach wie vor mit Freund*innen getroffen und Zeit draußen verbracht. Der Ernst der Lage ist den Jugendlichen aber meines Erachtens nach durchaus bewusst und sie verhalten sich nicht unvernünftiger als der Rest der Gesellschaft. Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt darauf, bald zu hören, was für ganz neue Möglichkeiten Kinder und Jugendliche gefunden haben, sich zu beschäftigen. Vielleicht haben einige ja neue Hobbys entwickelt, neue Dinge gelernt, sich mit anderen Sachen als sonst beschäftigt, für die Alltag und Schule ansonsten wenig Zeit lassen?

 

Welche Schwierigkeiten haben Jugendliche durch Corona momentan? 

Das lässt sich so einfach nicht beantworten. Kein*e Jugendliche*r wie die*der andere, sowohl die Herausforderungen, vor denen sie stehen, als auch die zur Verfügung stehenden Ressourcen und Kompetenzen zur Bewältigung der Lage sind individuell unterschiedlich.

Ich habe ja bereits erwähnt, dass insbesondere in bereits belastenden familialen Lebenssituationen die Lage sicherlich momentan nicht einfacher ist. Aber auch abgesehen von den direkten sozialen Strukturen ist die aktuelle Situation sicherlich herausfordernd. Wenn Jugendliche beispielsweise gerade mit der Pubertät zu tun haben, merken, wie sich ihr Körper und ihr Denken verändert, kann das ja auch zu einer gewissen inneren Krise führen. Wenn zu diesem innerpsychischen Durcheinander dann noch ein gesellschaftlicher Ausnahmezustand kommt, macht das die Bewältigung der eigenen Entwicklung unter Umständen auch nicht leichter, weil Möglichkeiten zum Austausch unter Gleichaltrigen, zum Auspowern beim Sport, zum Ratsuchen oder auch zum Streit bei der Schulsozialarbeiterin oder der Jugendarbeiterin fehlen.

Abgesehen von solchen jugendspezifischen Herausforderungen spüren Kinder und Jugendliche genau wie wir alle den Ausnahmezustand, die Kontaktarmut bis hin zur Isolation, das Fehlen sozialer und kultureller Veranstaltungen und Anregungen.