Interview Autonomes Mädchenhaus Kiel

Leonie arbeitet im Autonomen Mädchenhaus Kiel. Das Autonome Mädchenhaus bietet Beratung und Schutz für Mädchen und junge Frauen zwischen 12 und 21 Jahren. Wenn Mädchen oder junge Frauen in Not sind oder sich in einer Krisensituation befinden, bietet das Autonome Mädchenhaus Schutz und Beratungen an. Wir sprachen mit Leonie darüber, was die aktuelle Situation für Auswirkungen auf die Arbeit hat.

 

Hallo Leonie! Du arbeitest ja im Autonomen Mädchenhaus Kiel. Wir haben da mal eine Frage an dich. Das Coronavirus zwingt die Menschen aktuell ja seit einigen Wochen in die Quarantäne. Immer mehr wird klar, dass dies zu einem Anstieg von häuslicher Gewalt führt. Beobachtet ihr im Autonomen Mädchenhaus Kiel eine ähnliche Entwicklung?

Wir vom Autonomen Mädchenhaus Kiel freuen uns über das Interesse und die Fragen.

Ein Anstieg häuslicher Gewalt wirkt sich natürlich auch auf Kinder und Jugendliche in den Familien aus. Wir erleben eine Situation, die sich in Familien sehr unterschiedlich niederschlägt und es deshalb besonders wichtig ist, Schutzräume weiterhin zugänglich zu machen. Das Mädchenhaus Kiel ist so ein Schutzraum, in dem Mädchen und junge Frauen einen Ort finden, an dem sie zunächst aus einer Krisensituation rauskommen, zur Ruhe kommen können und Unterstützung und Begleitung dabei bekommen, passende Hilfe zu erhalten. Diese Mädchen und jungen Frauen erleben zu Hause psychosoziale Belastungen, Stress und Hilflosigkeit. Durch die aktuelle Isolation, Perspektivlosigkeit und fehlende Alltagsroutinen wie Schule oder Arbeit können solche Faktoren verstärkt werden und zu einem Anstieg häuslicher Gewalt führen.

 

Ja, das haben wir befürchtet. Wo du gerade erzählst, wie ihr einen Schutzraum für Mädchen und junge Frauen sicherstellen wollt, frage ich mich gerade, wie sich denn die aktuelle Situation auf den Arbeitsalltag von dir und deinen Kolleginnen auswirkt?

Zunächst hat es natürlich Auswirkungen auf die pädagogische Arbeit, also Gespräche, gemeinsam den Alltag erleben, das geht nur mit genügend Abstand und Schutzmaßnahmen. Es verändert das Agieren miteinander und erfordert häufig Improvisation. Wobei auch das Dinge sind, die Pädagog*innen nicht fremd sind. Dann macht es auch einen Unterschied, dass wir eine Einrichtung für den Übergang sind und keine feste Einrichtung, in der Kinder und Jugendliche für einen längeren Zeitraum leben. Wir haben eine größere Fluktuation und nehmen damit ein höheres Risiko auf uns.

Natürlich sind auch die Jugendlichen in ihrer Autonomie und Selbstbestimmung eingeschränkt und müssen sich an die Vorgaben bezüglich der Kontaktverbote halten. Dass eröffnet andere Konfliktfelder und erfordert eine stetige Auseinandersetzung und Reflexion.

Andere Beteiligte im Hilfesystem, Jugendämter, Familienhelfer*innen und Co., arbeiten ja auch gerade anders als gewohnt. Der persönliche Kontakt ist meist nur telefonisch möglich. Es fehlen möglicherweise direkte Eindrücke der aktuellen Situation der Mädchen und jungen Frauen. Trotzdem muss sichergestellt werden, dass Schutz und weitere Perspektiven gegeben sind. Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe haben ihre Aufnahmeregularien der aktuellen Situation angepasst, was bedeuten kann, dass sich der Aufenthalt von Mädchen und jungen Frauen in unserer Einrichtung, die einen Übergang darstellt, eventuell verlängert, da eine schnelle Unterbringung, auch wenn sie meist möglich gemacht wird, nicht immer ermöglicht werden kann. Für unsere Arbeit bedeutet dies, Mädchen und jungen Frauen in diesen Zeiten, in denen Hilflosigkeit und Perspektivlosigkeit manchmal in den Vordergrund treten, Stabilität und Vertrauen zu geben und Solidarität zu zeigen. Aber das sind bereits Kernthemen unserer Arbeit, die auch in dieser Zeit unabdingbar sind.

 

Was ist denn die größte Schwierigkeit für die jungen Frauen und Mädchen bei euch in der aktuellen Zeit?

Zum einen sind es die Faktoren, die ich in der ersten Frage benannt habe, die schon bestehende psychosoziale Belastungen verstärken können. Mädchen und junge Frauen, die zu uns in die Einrichtung kommen, bringen sehr unterschiedliche Anliegen und Probleme mit. Dazu gehören auch psychische Erkrankungen, die in der momentanen Situation und auch Isolation verstärkt werden können. Wenn hier nötige Unterstützung fehlt, da auch therapeutische Angebote gerade in veränderter Form stattfinden, kann das zu Krisen führen. Aber natürlich kann auch der Wegfall des Schulbesuchs eine Schwierigkeit darstellen, wenn wichtige Bezugspersonen nicht mehr regelmäßig gesehen werden und ein Austausch über Sorgen und Nöte aber auch über das ganz Alltägliche unter Peers nicht stattfinden kann oder bei Krisen zu Hause nicht auf das Lehrpersonal oder die Schulsozialarbeiter*innen zugegangen werden kann. Wenn in einer Krise nicht auf die bekannten Ressourcen zurückgegriffen werden kann, also z.B. das soziale Netzwerk, dann können Situationen als Ausweglos erscheinen.

Die Mädchen und jungen Frauen sollen auch in einer krisenhaften Situation ihrem gewohnten Alltag so weit es geht nachgehen können, das gibt Stabilität und Orientierung. Da dies momentan aber an vielen Stellen fehlt, können hier sicherlich Schwierigkeiten entstehen.

 

Da habt ihr ja aktuell Einiges zu tun. Hast du gehört, was in Rümpel, im Kreis Stormarn passiert ist? Da ist in einem Pflegeheim Corona ausgebrochen. Viele Bewohner*innen sind infiziert worden und auch einige Pfleger*innen. Wäre das für euch auch ein Worst-Case-Szenario? Hättet ihr einen Plan, wenn bei einer Bewohnerin im Mädchenhaus ebenfalls Corona festgestellt worden wäre?

Natürlich hätte so eine Situation große Auswirkungen auf unsere derzeitige Praxis. Personen müssten innerhalb der Einrichtung in Quarantäne, wir müssten alle Personen kontaktieren, die mit einer positiv getesteten Person Kontakt hatten und wir müssen daneben sicherstellen, dass der normale Betrieb weiter geht. Es gibt einen Krisenplan, der in jeder Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung erstellt werden muss. Hier hat das Landesjugendamt Empfehlungen gegeben. Wie dieser Plan aussieht und eine Umsetzung stattfindet, ist aber von den jeweiligen Einrichtungen, deren personeller und räumlicher Struktur abhängig. Für kleinere Einrichtungen ergeben sich hier sicherlich andere Herausforderungen als für größere Träger, in denen mehr Personal und mehr Raum zur Verfügung steht.

 

Dann drücken wir mal die Daumen, dass es dazu gar nicht erst kommt. Hättest du eigentlich einen Wunsch an die Politik, wie man eure Arbeit unterstützen könnte?

Danke, wir tun alle unser Bestes, damit möglichst alle geschützt sind!

Also, mit Wünschen ist das so eine Sache. Gerade erst wurden Tatsachen geschaffen, Kinder, bei denen eine Gefährdung gesehen wird, können mit einer Entscheidung des Jugendamtes in eine Notbetreuung kommen.

Darüber hinaus muss Kinderschutz, in unserem Fall der Schutz von Mädchen und jungen Frauen, weiter gewährleistet sein und Kinder und Jugendliche dürfen nicht übersehen werden. Kinder haben Rechte, sie müssen sich informieren können und in der Not Schutz finden. Es gibt bereits gute Ansätze von Online-Beratungen für Kindern, Jugendliche und Eltern. Das ist ein guter Anfang und besteht auch nicht erst seit Corona. Egal ob Krise oder nicht, Kinder- und Jugendhilfe hat einen Schutzauftrag. Der besteht nicht nur im direkten Kontakt sondern muss auch für politische Entscheidungen richtungsweisend sein, wenn es um die finanzielle und personelle Ausstattung der Kinder- und Jugendhilfe geht. Und wir müssen auch über Landesgrenzen hinweg sehen, Situationen wie Beispielsweise in Griechenland dürfen nicht einfach laufen gelassen werden, es muss Verantwortung übernommen werden. Wir sehen, wen die Krise besonders hart trifft, wer jetzt noch mehr in den Hintergrund gerät. Das zeigt nicht erst die aktuelle Situation und es wird uns auch weiterhin darum gehen, Lebenswege von Mädchen und jungen Frauen sichtbar zu machen und ihnen durch Begleitung und Unterstützung eigene Lebenswege zu ermöglichen. Politik kann dabei unterstützen, Handlungsräume der Kinder- und Jugendhilfe flexibel zu gestalten, um individuellen Hilfebedarfen begegnen zu können.

 

Interessante Ansätze. Die sind bestimmt auch für die Jusos spannend. Danke für die Impulse!

Sehr gerne, wir freuen uns immer über einen guten Austausch! Bleibt alle gesund.