Heute jährt sich zum 75. Mal die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht. Am 8. Mai 1945 autorisierte der von Adolf Hitler testamentarisch eingesetzte Reichspräsident Karl Dönitz die Kapitulation gegenüber den alliierten Streitkräften. Der Sitz der von Dönitz geführten Reichsregierung war übrigens ursprünglich in Plön und Eutin, ehe er nach Flensburg wechselte.
Nun, 75 Jahre nach dem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland, wird wieder fleißig diskutiert, wie man mit diesem Jahrestag umgeht. Es überrascht kaum noch, dass Gauland als Vorsitzender einer rechtsextremen Partei dieser Tage fordert, man dürfe den 8. Mai nicht zu einem Feiertag erklären, da dieser für Deutschland “kein Glückstag” sei, sondern eine “absolute Niederlage” bedeutet habe. Dieser erneute Versuch, durch geschichtsrevisionistische Aussagen aus der deutschen Bevölkerung Kriegsopfer des Zweiten Weltkrieges zu machen, hat mittlerweile leider Methode. Noch schlimmer ist es, dass man den Eindruck bekommt, dass so etwas erfolgreich ist.
2018 veröffentlichten der Bielefelder Antisemitismus-Experte Andreas Zick zusammen mit seinem Kollegen, dem Psychologen Jonas Rees, eine Studie namens “Trügerische Erinnerungen: Wie sich Deutschland an die Zeit des Nationalsozialismus erinnert”. Im Rahmen dieser Studie wurde eine repräsentative Telefonumfrage durchgeführt, die den Erfolg der deutschen Erinnerungskultur in Frage stellt. Genauer gesagt, wird ein Zerrbild über die NS-Vergangenheit zutage gefördert. So gaben 69% der Befragten an, dass ihre Vorfahren keine Täter*innen während des Zweiten Weltkrieges waren. Sogar 18% der Befragten bejahten die Frage, dass ihre Vorfahren möglichen Opfer der Nationalsozialist*innen halfen, indem sie zum Beispiel Jüd*innen versteckten. Dabei geht man in der Forschung aktuell davon aus, dass maximal 0,3% der Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus tatsächlich potenziellen Opfer geholfen haben. Man kann also sagen, dass die Erinnerungskultur der letzten Jahre oder Jahrzehnte zu einem Widerspruch zwischen der Wahrnehmung und den historischen Tatsachen geführt hat.
Wie konnte es dazu kommen? Sicherlich tragen die ständigen Diskursverschiebungen durch rechte und rechtsextremistische Kräfte, wie eingangs erwähnt, ihren Teil dazu bei. Einen weiteren Hinweis findet man bei folgenden durch die Studie ermittelten Ergebnisse. So sagen zwar 95% der Befragten, dass die Behandlung des Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht wichtig sei, jedoch findet man auf den Plätzen 1-3, was die wichtigen Themen angeht, folgende: “Verhindern, dass der Nationalsozialismus zurückkommt”, “Lernen, welchen Schaden Rassismus anrichten kann” sowie “Vermittlung von Werten”. Erst auf Platz vier und mit dem niedrigsten Wert ausgestattet, findet man das Thema “Mitgefühl gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus”. Ja, man weiß, dass man sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen muss, die konkrete Auseinandersetzung soll jedoch möglichst bequem stattfinden. Dass man verhindern soll, dass der Nationalsozialismus zurückkommt, ist eine so leere Floskel, die wohl jede*r unterschreiben kann. Dass man autoritären Bewegungen, die gerne die Demokratie abschaffen möchte, auch auf dem Leim gehen kann, ohne dass sie sich als “Nazis” äußern, sieht man ja aktuell bei den sogenannten “Hygienedemos” und anderen herum wabernden Verschwörungsmythen.
Ebenfalls spannend ist die erste Frage der Studie. Diese lautete “Was ist Ihrer Meinung nach das wichtigste Ereignis in Deutschland seit 1900?”. Hier gaben 39% der Befragten die Wiedervereinigung an (die hat ja auch schon einen Feiertag bekommen hat) und zumindest 37% das Ende des Zweiten Weltkrieges. Nur 8% der Befragten nennen die Antwortmöglichkeit “Holocaust”, das offensichtlich unangenehmste Thema. Nun kann man argumentieren, dass die Fragestellung dazu verleiten würde, an ein möglichst positives Ereignis zu denken. Dennoch wird am Umgang mit dem Holocaust die grassierende Schlussstrichmentalität in der deutschen Bevölkerung am klarsten. “Auch wenn ich selbst nichts Schlimmes getan habe, fühle ich mich schuldig für den Holocaust” – diese Aussage lehnten in der Studie 77% der Befragten ab und nur 11% stimmten ihr zu. Auch die regelmäßig stattfindende “Mitte-Studie” der Friedrich-Ebert Stiftung ermittelte in den vergangenen Jahren immer wieder, dass etwas mehr als ein Drittel der Deutschen dafür ist, unter dem Nationalsozialismus einen Schlussstrich zu ziehen.
Die deutsche Erinnerungskultur an die NS-Zeit ist so kuschelig bequem geworden, dass sich eklatante Lücken zwischen der Selbstwahrnehmung und den historischen Tatsachen aufgetan haben. Sie ist so konsensual, dass auch Antidemokrat*innen mitgenommen werden können, indem sie einfach bestätigen, sie seien ja auch gegen “Nazis”. Das vielleicht stärkste nationale Narrativ der Deutschen als “Weltmeister der Aufarbeitung” ist zu hinterfragen. Wir brauchen eine neue, eine kritischere Erinnerungskultur. So kann ein kritischer Umgang auch bei einem selber beginnen. Man könnte mal anfangen in seiner eigenen Familie nachzuforschen: Wie haben sich Großeltern bzw. Urgroßeltern während der NS-Zeit verhalten? Wie und worüber wird eigentlich in meiner Familie über den Nationalsozialismus gesprochen? Und trotz Täter*innen-Nachforschung nicht auch vergessen mit Opfergruppen und deren Nachkommen ins Gespräch kommen. Man sollte feststellen, dass Menschenhass und antidemokratische Bestrebungen auch ohne “Nazi-Etikett” funktionieren. Man könnte einsehen, dass das Teilen eines Sharepics am 27. Januar zwar nicht schadet, doch aktiv helfen könnte man durch die Solidarität für den jüdischen Staat und Schutzraum Israel. Oder auch mal privat außerhalb von Schule oder Universität eine KZ-Gedenkstätte besuchen.
Du interessierst dich für die Studie? Hier findest du einen Überblick → https://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Pressemitteilungen/MEMO_PK_final_13.2.pdf