Letzten Samstag fand die zweite Woche in Folge in Kiel eine „Demonstration für Grundrechte“ statt. Auf den sogenannten „Hygienedemos“ finden sich allerhand Menschen zusammen: Linke, Rechte, Esoteriker*innen, Impfgegner*innen und Trump-Fans. Ich war vor Ort und hab mit den Leuten gesprochen: Es ging um alles (und nichts) – Grundrechte waren aber kaum ein Thema.
von Marcello Hagedorn, stellvertretender Juso-Landesvorsitzender
Der erste Eindruck: Das Deutschlandlied
Schon ein komisches Gefühl: Wenn ich auf Gegendemos gehe, habe ich normalerweise ein klares Bild davon, gegen wen ich da demonstriere. In der Regel sind es Burschenschaften, die AfD und andere Schwachmaten aus der rechten Ecke. Sie sollen zu spüren bekommen, dass ich sie ächte. Wer mit seinen Worten und Taten die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährdet, muss die Antwort der Mehrheitsgesellschaft deutlich spüren. Doch dieses Mal stand ich vor einem zusammengewürfelten Haufen, der glaubt genau für diese Grundordnung auf die Straße zu gehen.
Es gab keine Reden oder einheitliches Auftreten, an dem ich festmachen konnte, wie die Menschen ticken. Sind es Pegida-Leute, wie sie im Osten auf den sogenannten „Hygiene-Demos“ rumrennen, oder doch verirrte Seelen, die irgendwo zwischen Facebook und YouTube falsch abgebogen sind? Ich dachte mir: Ich werde es herausfinden, wenn ich mit ihnen spreche. Genau in dem Moment stimmte die Hälfte der Veranstaltung die Nationalhymne an. Ja ja, das Lied vom Vaterland – passte dann auch ganz gut zu den AfD-Funktionären, die später noch auf der Demo gesichtet worden sind. Endlich gab es Anlass mal laut zu werden: „Alerta, Alerta, Antifaschista!“ – Die Mehrheit unserer Gegendemo lies die patriotischen unter den Grundrechtsfreund*innen nicht mal bis zum Ende ihrer ersten Strophe kommen. Doch nicht nur wir waren genervt, auch auf deren Seite gab‘s Streit. Ein Indiz dafür, wie unterschiedlich die Leute sind, die da so demonstrieren. Also hab ich mich ins Getümmel gestürzt.
Der Typ mit der Weste
Auf jeder Demo gibt es Ordner*innen. Sie sorgen dafür, dass Auflagen, wie seit Neustem die Maskenpflicht, umgesetzt werden. Mein erster Gesprächspartner war einer von ihnen und besonders gesprächig. Er sei nicht rechts oder so, aber er stelle sich gerade viele unbeantwortete Fragen, die sein Vertrauen in den Staat zerstören. Es beschäftige sich schon lange mit sehr komplizierten Themen und er könne mir jetzt nur von ein paar davon berichten: Ob ich denn zum Beispiel wüsste, dass Bill Gates sich in die WHO und die Charité eingekauft hätte. Seine Stiftung investiere schon seit Jahren in die Impfforschung. Kaum hatte ich zwei Sätze gesagt, um ihn zum Beispiel darauf aufmerksam zu machen, dass viele der Spenden zweckgebunden sind und nur einen geringen Teil der Finanzierung der Institutionen ausmachten, wurde ich auch schon wieder überrumpelt mit dem nächsten „Geheimnis“. Schade – gerne hätte ich ihn gefragt, wie China (Trumps Theorie folgend) eigentlich so viel Einfluss auf die WHO haben soll, wenn sie doch zu 80 Prozent der Gates-Stiftung gehöre. Was für ein Irrsinn.
„Hast du schon mal von dem Bilderberg-Treffen gehört?“, fragte er und ich spürte meinen Geduldsfaden dünner werden. Da kämen alle großen Medienhäuser zusammen mit Politiker*innen, Wirtschaftsbossen, Milliardär*innen und wer sonst so finstere Gedanken hegt. Von dort werde alles gelenkt, die ganze Medienmanipulation, der wir ausgesetzt seien. „Deswegen gibt es auch keine Protokolle!“. Komisch, dass alle davon wissen, wenn es doch so geheim ist, dachte ich mir. Also alle, außer hauptberufliche Investigativjournalist*innen, kritische Medienhäuser aller Welt und sowieso die gesamte Öffentlichkeit, die nicht auf YouTube und Facebook unterwegs ist. Ich hatte mich dann aber doch für die Frage entschieden, ob er wisse, wie Medienhäuser inhaltliche Entscheidungen treffen. Statt einer Antwort erfuhr ich dann, dass Donald Trump vor zwei Wochen die Bildzeitung gekauft hat und sie deswegen nun auch anders über Corona berichtet. Während ich die Frage nochmal stellte, fing er an zu googlen. Das wars, der Geduldfaden riss: Es kostete nicht viel Anstrengung sein Gerüst von Halbwahrheiten und Annahmen zu zerlegen. Dass es so etwas wie Redaktionskonferenzen und Aufsichtsräte gibt, schien er das erste Mal zu hören. Viel wichtiger war mir aber ihm zu erklären, dass ich die ganze Zeit eine Maske trage, um ihn vor meiner Spucke zu schützen. Er hingegen gefährdet alle um sich herum, weil er es offensichtlich nicht für nötig hält – er als Ordner. Was war noch gleich sein Job?
Die Tante mit der Niqab
Nachdem sich der Typ mit der Weste zurückgezogen hatte, stach mir etwas anderes in mein Auge: „Schluss mit dem Corona-Zirkus“ stand da auf nem Zettel. So weit, so normal auf dieser Demo. In der Hand gehalten wird dieser aber von einer Frau mit enganliegenden Klamotten, einem kurzen Rock und … einer Niqab. Niqab – das ist das, was viele fälschlicherweise für eine Burka halten. Und eine Burka ist für Rechte bekanntlich ein gern genutztes Symbol für die „Islamisierung des Abendlandes“. „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse […]“, meinte Alice Weidel beispielsweise im Bundestag. Auch „die Identitären“, ich nenne sie ja lieber Hipster-Nazis, haben die Burka schon für eine ihrer Aktionen missbraucht. Spannend also, wer die Tante mit der Niqab ist und was sie für ein Symbol setzen will, dachte ich mir und fragte sie einfach.
Nein! Hier ginge es nicht um Symbole, log sie. Sie hätte nur „keinen anderen bequemen Mundschutz gefunden“. Was ihre Botschaft sei, wollte ich wissen. Eine Antwort gab es aber keine mehr, nur ein paar Schritte nach hinten. Schade, ich hätte gerne mit ihr über Religionsfreiheit und die feministische Perspektive auf Burkas und Niqabs gesprochen. Dann wäre es wenigstens mal um die Grundrechte gegangen. Stattdessen festigte sich mein Eindruck, dass sich hier eben doch Menschen rumtreiben, die sich über die neue Plattform freuen, um ihre Hetze auf Minderheiten zu betreiben.
Die von der Linken
Keine zwei Minuten stand ich dann rum. „Warum nicht mal durchatmen?“, ging mir durch den Kopf, doch gleichzeitig wurde ich angesprochen. „Ich bin ja von der Linken“, sagt die von der Linken. Sie bekam ein anerkennendes Nicken, das auch ausdrücken sollte, dass ich trotzdem dumm finde, dass sie sich an der Demo beteiligt. Sie wolle sich für das Deutschlandlied entschuldigen. Sie fand die Idee eigentlich auch blöd, aber habe sich dann bereden lassen und jetzt sei ihr das furchtbar unangenehm, dass sie mitgesungen habe.
Wie aus einem Guss bekam ich direkt im Anschluss erklärt, dass die Demo ja aus unterschiedlichen Gruppen bestünde und sie sich „mit denen da hinten“ auch gar nicht identifizieren würde und sie ja auch zehn Sprachen spreche und sowieso „total kosmopolitisch“ unterwegs sei. Warum sie dann hier sei? Es könne nicht sein, dass sie ihre Mutter im Altenheim nicht besuchen dürfe. Wir würden unrechtmäßig bevormundet und die Maßnahmen seien überhaupt nicht diskutiert worden.
„Schon wieder jemand ohne Maske“, ging mir durch den Kopf, während ich mir ihrem persönlichen Schicksal konfrontiert wurde. Ich vermied es, ihr von meinen persönlichen Schicksalen und Einschränkungen zu erzählen. Die Einschränkungen treffen uns alle gleich und doch sind wir unterschiedlich betroffen. Kein gutes Thema zum ausdiskutieren.
Ob es sie nicht störe, dass sie hier offensichtlich mit Menschen zusammensteht, die sich als Patriot*innen verstehen, frage ich stattdessen. Das sei schon schwierig, aber sie sei ja hier, um darüber zu sprechen, dass Menschen gerade nicht Menschen sein könnten, weil ihnen das Soziale genommen werde. Schon ein besseres Thema, denke ich mir, aber frage mich gleichzeitig laut: „Warum diskutierst du das nicht in und über deine Partei?“. Sie sei mit denen zerstritten, war die kurze Antwort. Den impliziten Anstoß, darüber nachzudenken, ob Verschwörungstheoretiker*innen und Rechtsaußen die richtigen Gesprächspartner*innen für ihr Thema sind, hat sie wohl nicht mitgenommen – schade.
Was bleibt also?
Wie es aussieht, stimmt‘s: Linke, Rechte und Erleuchtete kommen unter einem Thema zusammen und bilden eine Querfront – auch in Kiel. Der Typ mit der Weste, die Tante mit der Niqab und die von der Linken sind nur eine kleine Auswahl. Doch sie können den Eindruck bestätigen, der sich beim Lesen der Berichterfassung zum Thema schon breitgemacht hat. Für mich sind sie Ausdruck von Verunsicherung und dem damit einhergehenden Wunsch nach Halt und Gewissheit. Jede*r auf seine Art. Die Eine stürzt sich in eine Demo, auf der sich auch der politische Feind rumtreibt. Die Andere flüchtet sich in Islamophobie und der damit einhergehenden Konstruktion von “Wir” und “Die Anderen”. Der Letzte sucht die Wahrheit bei Xavier Naidoo, Ken Jebsen, Attila Hildmann und anderen Verschwörungstheoretiker*innen, die die Welt gerade mit ihrem Fantasien zuscheißen.
Wir werden uns an sie alle leider gewöhnen müssen, denn die Phase gesellschaftlicher Ungewissheiten wird andauern und die Konflikte nicht kleiner werden. Wir müssen uns darin üben, mit den Menschen zu sprechen, deren Position noch gerade ertragbar ist. Nur so können wir verhindern, dass sie die Grenze überschreiten, ab der wir sie ächten müssen. Wo die Grenze ist? Schnapp dir doch mal ein Buch, statt zu viel im Netz zu hängen: „Schluss mit der Geduld – eine Anleitung für Kompromisslose Demokrat[*innen]“ von Philipp Ruch ist diesbezüglich mein Tipp der Woche!