Die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass Verschwörungsmythen eine neue Konjunktur haben. Eine möglichst einfache Antwort auf komplizierte Sachverhalte, gepaart mit diffusem Elitenhass scheinen nach wie vor attraktiv zu sein. Was das problematische an Verschwörungsmythen ist, wie sie aktuell in Erscheinung treten und was ein möglicher Umgang mit ihnen sein könnte – darum soll es in diesem Blogartikel gehen.
Warum “Mythos”?
Es fällt auf – wir benutzen das Wort “Verschwörungsmythos” und bezeichnen das hier behandelte Phänomen nicht als “Verschwörungstheorien”, auch wenn das gängiger zu sein scheint. Doch das Phänomen, um das es hier geht, hat nichts mit einer “Theorie” zu tun. Theorien sind Versuche, Wirklichkeit zu beschreiben. Sie sind widerlegbar und tauchen daher insbesondere im wissenschaftlichen Kontext auf. Das, was aktuell im Umfeld der Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen zu finden ist, hat hingegen nichts mit wissenschaftlich widerlegbaren Theorien zu tun. Das sind in sich geschlossene und abgeschottete Denksysteme, Weltanschauungen und Mythen. Daher das Wort “Verschwörungsmythos”.
Verschwörungsmythen sind in der Menschheitsgeschichte immer wieder anzutreffen. Und ein Blick auf die vergangenen Jahrhunderte zeigt auch, dass sie stets antisemitisch eingefärbt gewesen sind. Ein Beispiel ist die Ritualmordlegende im Mittelalter, laut derer Jüd*innen Kleinkinder entführen würden, um diese zu töten und deren Blut für medizinische und magische Zwecke zu verwenden. Dieser Verschwörungsmythos erinnert bereits stark an Xavier Naidoos Gefasel aus dem vergangenen April, wonach “die Eliten” Kinder verschwinden lassen, um aus deren Blut Stoffe für Hautpflegeprodukte zu gewinnen. Ein anderer historischer Verschwörungsmythos, der bis heute wirkt, sind die sogenannten “Protokolle der Weisen von Zion”. Dieses völlig ausgedachte Pamphlet aus dem 19. Jahrhundert behauptet, eine Protokollsammlung eines Treffens zu sein, bei dem Jüd*innen zusammenkamen, um den Plan der Weltherrschaft zu forcieren. Ein Update dieses Verschwörungsmythos findet man heute nicht nur bei der Bilderberger Konferenz, einem informellen Treffen von Spitzenvertreter*innen aus Politik, Wirtschaft und Medien, sondern ganz aktuell auch auf die Weltgesundheitsorganisation (WHO) umgemünzt.
Verschwörungsmythen und ihre Funktionen
Doch warum trifft man immer wieder Verschwörungsmythen an? Weswegen halten sich ihre Konstrukte über Jahrhunderte? Zuerst einmal ist auffällig, dass Verschwörungsmythen insbesondere in Krisenzeiten wieder aufflammen. Das liegt vor allem an ihrem komplexitätsreduzierenden Charakter. Dies zeigt auch die Coronakrise. Für alle auf der Welt ist Covid-19 ein neuartiges, kaum erforschtes Virus. Eine Pandemie, wie die aktuelle, gab es es bisher noch nie, erst recht nicht in so einem globalen Ausmaß, durch das auch das reiche Europa oder Nordamerika betroffen sind. Um das alles, was da seit Monaten täglich, wenn nicht eher stündlich, auf die Gesellschaft einprasselt, zu verarbeiten, bieten einfache und komplexitätsreduzierende Erklärungsmodelle Halt. Gleichzeitig knüpfen Verschwörungsmythen aber auch an vorherrschende Stimmungen und/oder Ressentiments innerhalb Gesellschaften an. Impfgegner*innen oder die Behauptung, das Leben der Menschen werde von geheimen Mächten ferngesteuert, sind nichts Neues. Diese Mythen erhalten aktuell lediglich eine Möglichkeit, sich einem Umstand anzupassen und eine Bühne zu nutzen.
Auf individueller Ebene erfüllen Verschwörungsmythen auch außerhalb von Krisenzeiten sozialpsychologische Funktionen. Sie können eine Art Bewältigungsstrategie für ganz individuelle Erfahrungen sein. Dabei, wie bereits erwähnt, können sie die Frage, warum einem ausgerechnet dieses eine Schicksal ereilt habe, so beantworten, dass sie in eine übergeordnete Erzählung passt. Die Ohnmacht des Einzelnen wird schlagartig damit erklärt, dass es ja diesen einen Plan der Mächtigen gebe, wogegen man sich alleine gar nicht wehren könne. Daher schließt man sich mit Gleichgesinnten zusammen. Durch diesen Zusammenschluss entsteht dann ein ausgeprägtes Wir-Gefühl, dessen Identität sich sehr stark durch die Abgrenzung den “anderen” gegenüber bestimmt wird. Diese “anderen” können, so die Logik der Verschwörungsanhänger*innen, noch nicht das wahre Geschehen erkennen, da ihnen Erfahrung oder ein bestimmtes Wissen fehle. Dies führt dazu, dass die “anderen” aktuell mit einem bemitleidenden Unterton als “Schlafschafe” tituliert werden. Eine weitere Gruppe der “anderen” sind diejenigen, die als Sündenböcke oder Verschwörer*innen fungieren. Der Soziologe Michael Schetsche geht daher davon aus, dass Verschwörungsmythen in unserer politisch, gesellschaftlich, ökonomisch und technisch immer komplexer werdenden Welt häufiger auftreten werden, um als Erklärungsmuster für immer unübersichtliche Entwicklungen zu dienen.
Wie gehen wir damit um?
Wie nun also umgehen mit dem Phänomen der Verschwörungsmythen? Landläufig trifft man immer wieder die Meinung an, dass diese Leute doch “krank” und “geistesgestört” seien. Doch mit diesen Bezeichnungen sollte man sehr vorsichtig sein. Einerseits dürfen psychisch erkrankte Menschen nicht pauschal mit Anhänger*innen von Verschwörunsmythen gleichgestellt werden. Andererseits könnte man aus diesen Bezeichnungen auch ein entlastendes Moment herauslesen, wenn man sagt, diese Menschen seien erkrankt, weswegen sie keine Schuld treffe, Verschwörungsmythen anzuhängen. Darüber hinaus könnten Anhänger*innen von Verschwörungsmythen dadurch auch unterschätzt werden. Stattdessen müssen Verschwörungsmythen als ein politisches Phänomen begriffen werden. Sie können insofern eine Gefahr darstellen, da sie durchzogen sind von dem Wunsch, die aktuelle Staats- und Gesellschaftsordnung durch eine autoritäre Ordnung zu ersetzen. Wenn der Mitbegründer der Partei “Widerstand 2020” über den deutschen Staat sagt, “ein gesunder Organismus würde Viren und Bakterien selbst eliminieren, und das wollen wir mit dieser Partei erschaffen. Wir wollen eine Einheit werden”, ist das nichts anderes als die offen zur Schau getragene autoritäre und völkische Phantasie eines Anhängers von Verschwörungsmythen. Wenn ein Ken Jebsen, der bereits 2014 die Demokratie in einem kruden Vergleich als unnatürlich bezeichnete, in Stuttgart vor 5.000 Menschen bejubelt wird, ist das eine Gefahr.
Als Jungsozialist*innen sind wir natürlich immer an der Seite derjenigen, die die aktuelle kapitalistische Gesellschaftsform kritisieren. Doch diese Kritik hat unter emanzipatorischen Gesichtspunkten zu erfolgen und darf niemals als Pseudo-Kritik für eine autoritäre Gegenreaktion mit antisemitischer Sündenbock-Mentalität ausgenutzt werden. Wie man unter diesen Prämissen auch Corona-Maßnahmen kritisch untersuchen kann, hat beispielsweise unsere Partner*innenorganisation die Falken gezeigt: https://www.jusos-sh.de/2020/04/20/ein-blick-auf-die-corona-massnahmen-aus-sicht-der-falken-schleswig-holstein/.