Herr Prof. Dr. Kühl ist Honorarprofessor in der Europa-Universität Flensburg. Er ist hier Teil des Friesischen Seminars. Er spezialisiert sich auf Minderheitenfragen und die Geschichte der Grenze zwischen Deutschland und Dänemark.
Können Sie uns kurz die Entwicklung der deutsch-dänischen Grenze erklären?
Da kann man sehr weit ausgreifen bis zur Entstehung der ersten Grenz- und Kontaktzone in der Zeit der Völkerwanderungen, an deren Ende im 5. Jahrhundert das erste Danewerk entsteht, das, mit Unterbrechungen, bis Mitte des 13. Jahrhunderts als Grenzbefestigung des dänischen Machtbereichs diente. Danach entstand das Herzogtum Schleswig, später Holstein, so dass die dänische Machtgrenze schließlich an der Elbe verlief, Altona vorübergehend die zweitgrößte dänische Stadt war. Bis Ende des 18. Jahrhunderts gab es mehrere eigenständige Herzogtümer, u.a. auf Gottorf. In diesem dänischen Gesamtstaat gab es mehrere Nationalitäten, wurden etliche Sprachen gesprochen.
Teile des Reichs, insbesondere Holstein, gehörten bis 1806 zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, ab 1815 zum Deutschen Bund. Entlang der Eider verlief die Grenze zum Reich/Bund. Mitte des 19. Jahrhunderts kam es infolge des aufkommenden Nationalismus und der liberal-demokratischen Bestrebungen zu zwei nationalen Kriegen, wo der erste Krieg um Schleswig 1848-1850/51, der überwiegend ein Bürgerkrieg im dänischen Gesamtstaat war, zu einem Status Quo führte, während der zweite Krieg um Schleswig unter aktiver Beteiligung Preussens und Österreich zur Eroberung der drei dänisch regierten Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg führte. Dadurch verschob sich die Grenze bis an die Königsau, nachdem es zu einem Austausch zwischen königlichen Besitzungen in Schleswig kam.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde im Versailler Friedensvertrag von 1919 festgelegt, dass im nördlichen und mittleren Schleswig zwei Volksabstimmungen über die zukünftige Grenze durchgeführt werden sollten. Im Ergebnis votierten 75 % der Stimmberechtigten in der nördlichen Zone I, die ganz Nordschleswig umfasste, für die Angliederung an Dänemark, während 80 % der Stimmen in der Zone II, die ein Dreieck von der Flensburger Förde bis zu den Nordfriesischen Inseln bildete, für den Verbleib bei Deutschland abgegeben wurden. Im Ergebnis entstand die heutige deutsch-dänische Grenze. Zugleich produzierte die neue Grenze neue nationale Minderheiten beiderseits. Trotz Separatismus und der deutschen Besetzung Dänemarks 1940-45 hat die 1920 festgelegte Grenze noch immer ihre Gültigkeit und wird heute von keiner der Nationalitäten infrage gestellt. Die Minderheiten und Mehrheiten leben gut mit der Grenze, haben sie durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit bereits vor Jahrzehnten überwunden, obgleich die gefühlte Grenze und die Grenze in den Köpfen sich immer wieder aus Neue manifestiert. Da Dänemark infolge der Flüchtlingsbewegungen im Januar 2016 wieder die Grenze kontrolliert, seit Dezember 2019 einen Wildschweinzaun entlang der 69 km langen Grenze errichtet hat und aktuell in der Corona-Krise seit dem 14. März die Grenze effektiv geschlossen hat, ist den Bewohnern des Grenzlandes die Bedeutung nationaler Souveränität und die tatsächliche Stärke des Staates bewusst geworden.
Wie hat die dänische Minderheit die Veränderungen der Grenze historisch betrachtet und wie bewertet man das heute?
Die dänische Minderheit entstand aus zwei Anlässen: 1864 mit der preußisch-österreichischen Annexion Schleswigs, wodurch eine Anfangs 200.000 Personen zählende dänischsprachige Bevölkerung in Schleswig zur Minderheit wurde, sowie infolge der Grenzziehung von 1920, mit der die verbliebenen Dänisch gesinnten zu einer anfangs vielleicht 10.000 Angehörige zählenden Minorität wurden. Die dadurch entstandene dänische Minderheit war enttäuscht, hegte jedoch die Hoffnung auf eine spätere Grenzänderung. Dennoch schrumpfte sie in den folgenden Jahrzehnten, insbesondere während der Jahre 1933-1945 aufgrund umfassender Schikanen. Mit der Befreiung Anfang Mai 1945 erwartete die dänische Minderheit eine Vereinigung mit Dänemark. Obgleich in den folgenden Jahren die Größe der Minderheit exponentiell wuchs von unter 6.000 im Jahr 1945 auf 120.000 2-3 Jahre später wuchs, die Zahl der Schüler von unter 500 auf über 14.000 im Jahr 1948 mehr als 28-fach anwuchs, die Minderheit lokal zur Mehrheit wurde und auch in Dänemark bis zu 800.000 Unterschriften für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts zugunsten der dänischen Minderheit gesammelt wurden, hielten die dänischen Regierungsmehrheiten kategorisch an der Gültigkeit der Grenze fest.
Mit den Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955 wurde unter allen Ambitionen der dänischen Minderheit ein Schlussstrich gezogen, aber zentrale Persönlichkeiten innerhalb der Minderheit hegten noch über Jahrzehnte die Hoffnung auf eine Wiedervereinigungsoption. Anlässlich des 75. Jubiläums der Grenzziehung, bei den Festlichkeiten in den Düppeler Schanzen 1995, stellte der damalige Vorsitzende des dänischen Kulturvereins SSF unmissverständlich fest, dass die Grenzziehung gerecht sei. Seitdem herrscht keinerlei Zweifel daran, dass die dänische Minderheit sich als Minorität im demokratischen Deutschland integriert fühlt und keinerlei Grenzveränderungen anstrebt. Die Minderheitenrechte sind umfassend gesichert, die Angehörigen können ungehindert ihre Nationalität pflegen und entfalten. Es dauerte viele Jahrzehnte, bevor die dänische Minderheit im deutschen Staat angekommen ist. Heute ist die fest integriert und arbeitet energisch am Wohlergehen der Gesellschaft mit und setzt sich gemeinsam mit der deutschen Minderheit in Dänemark für eine Intensivierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit ein.
Welche Rolle spielt die Corona Krise in dem Kontext von Grenzbeziehungen?
Im Fall der deutsch-dänischen Grenze spielt die Coronakrise eine ganz zentrale Rolle. Am 14. März wurde die Grenze zu Dänemark und somit die meisten der Grenzübergänge, die seit 2001 offen waren, geschlossen. Zwei Tage später schloss die Bundesrepublik Deutschland auch die Grenze zu Dänemark. Dies bedeutete, dass für die allermeisten Grenzlandbewohner der persönliche Kontakt über die Grenze, Einkäufe und soziale Interaktion eingestellt wurde. Familien wurden zum Teil daran gehindert einander zu besuchen. Für die dänische Minderheit in Deutschland und der deutschen in Dänemark war dies ein immenses Problem, da die Verbindung zum jeweiligen “Heimatland” unterbrochen wurde. Die politischen Parteien und Kulturverbände der beiden Minderheiten haben deshalb gemeinsam vielfältige Aktivitäten entfaltet mit Appellen an die dänische Regierung, die Grenze zu öffnen. Auch wenn die Grenze jetzt Stück für Stück wieder geöffnet wird, werden die Folgen für viele sichtbar bleiben.
Somit haben die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus schwerwiegende Folgen für die Grenzbeziehungen. Veranstaltungen im 100. Jubiläumsjahr der Grenzziehung von 1920 mussten teilweise kurzfristig abgesagt werden, über 100 Veranstaltungen können nicht stattfinden. Dies betrifft vor allem die zentrale Veranstaltung in den Düppeler Schanzen am 11. Juli mit der dänischen Königin und dem Bundespräsidenten. Zuletzt ist auch die Großveranstaltung in Flensburg Ende August mit Teilnahme des Ministerpräsidenten, der Kanzlerin und der dänischen Ministerpräsidentin abgesagt worden. Für die Minderheiten sind die Folgen schwerwiegend. Auch wenn beabsichtigt wird, die Veranstaltungen 2021 nachzuholen, ist der Effekt damit teilweise verpufft.
Sie arbeiten auch als Schulleiter in der dänischen Minderheit. Wie erlebt die junge Generation der Minderheit die Evolution der Grenze und die aktuelle Situation der Grenze?
Ich denke, die junge Generation hat heute ein völlig entspanntes Verhältnis zur Grenze. Sie definiert sich nicht eindimensional als entweder Dänisch oder Deutsch, sondern überwiegend zweidimensional mit beiden Optionen. Sie kann und will nicht zwischen Deutsch oder Dänisch wählen, so wie die Stimmberechtigten es 1920 zwischen Dänemark oder Deutschland tun mussten. Sie verbindet beide Kulturen in sich und lebt gut damit. Deshalb ist die Staatsgrenze an sich wenig relevant, denn in der eigenen Person werden die beiden Sprachen und Kulturen, die durch die Staatsgrenze geteilt wird, praktisch vereinigt. Sie überschreitet in ihrem täglichen Leben sprachlich-kulturelle Grenzen, kann – außer in Corona-Zeiten – problemlos die Staatsgrenze überqueren, bis zu zwei Drittel der Abiturient*innen setzen ihre Ausbildung in Dänemark fort. Im Alltag spielt die Grenze keine oder nur eine marginale Rolle.
Minderheit sein ist immer kontextuell. Es gibt Lebensbereiche, wo die Zugehörigkeit zur dänischen Minderheit entscheidend ist, wie Schule, aber es gibt eben auch Bereiche, wo sie irrelevant ist. Grenze ist für die junge Generation eine Möglichkeit, die Überschreitung öffnet Bildungs- und Lebenswege. Die Geschichte der Grenze kennt sie, vielleicht, aus dem Geschichtsunterricht; aber sie spielt kaum eine große Rolle für die persönliche Identifikation, obgleich die dänische Minderheit ohne Grenze undenkbar ist. Es ist im Zusammenleben, in der tagtäglichen Begegnung von zwei Nationalitäten, Kulturen, Sprachen und Mentalitäten, dass die jungen Angehörigen die Grenze wahrnehmen. Zurzeit ist die grenzüberschreitende Interaktion unmöglich wegen Corona. Da wird die Grenze als hart empfunden, wird sie bewusst gemacht. Aber nach der Normalisierung werden die Corona-Maßnahmen in einigen Jahren zur Anekdote, weil das friedliche, beispielhafte Zusammenleben zwischen Deutschen und Dänen, Minderheiten und Mehrheiten sich weiterhin entfalten wird.