Was ist eigentlich „kritische Männlichkeit“ und warum ist sie so wichtig?

Nils Pickert ist 40 Jahre alt, Vater von vier Kindern und arbeitet als freier Autor und Journalist. Mit dem Verein Pinkstinks engagiert er sich gegen Sexismus und Homofeindlichkeit und dieses Jahr ist sein Buch “Prinzessinnenjungs” erschienen, in dem es um die geschlechtergerechte Erziehung von Jungen geht.

 

Hallo Nils, in Rahmen unserer feministischen Themenwoche wollen wir uns heute dem Thema „Kritische Männlichkeit“ widmen. Kannst du kurz erklären, was das eigentlich ist?

 

Nils: Kritische Männlichkeit setzt sich mit der unschönen Tatsache auseinander, dass Jungen und Männern ein ganzes Set an Regeln und Verhaltensweisen nahegelegt wird, mit dem sie sich selbst und andere verletzen, sich überfordern, mehr verlangen als ihnen zusteht und ihre Bedürfnisse nicht verbalisieren. Dieses Verhalten wird ihnen aufgezwungen, indem es mit geschlechtlicher Identität belegt wird: Tu dies oder das nicht, sonst bist du kein Mann. Mach das auf jeden Fall, dann bist du ein Mann. Kritische Männlichkeit stellt sehr nachdrücklich die Frage, was der ganze Unfug eigentlich soll und ob es nicht Eigenschaften gibt, die Männern und allen anderen sehr viel mehr zum Vorteil gereichen. Dabei geht es wohlgemerkt nicht um Dinge, die ihnen fremd sind. Fürsorge, Anständigkeit, Mitgefühl, Verletzlichkeit – all das hat Männer schon immer ausgemacht. Es wird ihnen nur nach wie vor madig gemacht und ausgeredet. Kritische Männlichkeit stellt fest, dass die Art und Weise wie Männer zu sein haben, oftmals ziemlich eindimensional, gewalttätig und schlichtweg beschissen ist. Um anschließend zu fragen, wie sie sein wollen.

Du sagst, dass kritische Männlichkeit nicht nur der eigenen Entfaltung, sondern auch anderen schadet. Wen trifft das besonders?

 

Nils: Marginalisierte Gruppen, Kinder und Frauen. Alle die, die einer bruchlosen Selbsterzählung von Macht und Herrlichkeit im Weg stehen könnten. Um mal ein besonders drastisches Beispiel zu wählen: Der Fünffachmörder von Kitzbühel begründete seine Tat unter anderem damit, dass er die Trennungsgründe seiner Ex-Freundin nicht akzeptieren wollte und ihr ausdrückliches und mehrfaches „Nein!“ für ihn nicht „Nein“ bedeutete. Kritische Männlichkeit nimmt den ungläubigen Ausruf „Was glaubt der eigentlich, wer er ist?!“ ernst und wörtlich. Ja, was glaubt der eigentlich? Wie kommt der darauf, dass ihm das zusteht, dass er die Definitionsmacht über das „Nein“ einer Frau hat und die Entscheidung über Leben und Tod. Wir beschreiben solche Täter zu oft als geisteskranke Einzeltäter, dabei sind sie häufig, wie die Gerichtsgutachterin in diesem Fall befindet „völlig normal“. Wir sollten und lieber fragen, was wir als Gesellschaft dazu beitragen, wie wir Männlichkeit erzählen und welche Optionen Männer überhaupt haben, anstatt uns hinter Selbstberuhigungen zu verstecken. 122 Frauen wurden 2018 allein in Deutschland von ihren Partnern oder Ex-Partnern umgebracht. Das müsste uns viel mehr aufregen.

 

Also gehört kritische Männlichkeit zum Feminismus dazu?

 

Nils: Eine der wichtigsten Denkerin des Feminismus, Bell Hooks, hat bereits 2004 in ihrem Standardwerk The will to change: men, masculinity, and love Grundlegendes zu kritischer Männlichkeit festgehalten. Die Soziologin Raewyn Connell arbeitet seit über 30 Jahren wissenschaftlich an dem Thema und hat unter anderem den Begriff „hegemoniale Männlichkeit“ geprägt. Eine Männlichkeitsversion also, die sicherstellt, dass Männer gesellschaftlich die dominante Position besetzen und Frauen in der untergeordneten verbleiben. Gleichzeitig haben männliche Autoren wie Klaus Theleweit und David Bertelson um 1980 herum damit begonnen, sich aus unterschiedlichsten Motiven Männlichkeit genauer anzuschauen. Kritische Männlichkeit speist sich also schon aus feministischen Überlegungen, aber nicht ausschließlich.

 

Ist es nicht schwierig, zu erkennen wie man sein will und diesen Weg auch zu gehen, wenn man sein Leben lang bestimmte Verhaltensmuster gelernt hat?

 

Nils: Selbstverständlich ist es schwer sich davon zu lösen, weil es ein aktives Entlernen erfordert. Weil es eben nicht nur darum geht, dass Männer bewusst falsch und böse handeln, sondern oftmals einfach das tun, was von ihnen tatsächlich oder angeblich erwartet wird. Nehmen wir mal ein unverfängliches Beispiel wie Heiratsanträge. Das Internet ist voll mit sogenannten „failed proposals“. Männer, die in aller Öffentlichkeit auf die Knie gehen, die Heirat antragen und ein „Nein!“ kassieren. Wenn man sich das genau überlegt, kann man schon verstehen, warum öffentliche Anträge eine schlechte Idee sind. Sie wird von ihm unter Druck gesetzt vor all diesen Leuten. Andererseits wird Männern permanent suggeriert, dass sie genau das tun sollen: Lass dir was einfallen, umwirb sie, geh kreativ mit ihrem „Nein“ um, lauf die Extrameile, fahr die ganz große Show auf, zeig ihr wie wichtig sie dir ist. Wie soll Mann da durchnavigieren? Kritische Männlichkeit sollte daher auch immer so selbstkritisch sein, dass sie Missstände nicht einfach nur bei Männern ablädt. Männer sind keine Müllhalden für alles, was in der Gesellschaft schief läuft. Die meisten Männer sind ziemlich tolle Menschen, denen man von klein auf unfassbar viel Scheiße erzählt und zugemutet hat. Kritische Männlichkeit sollte daher etwas für Männer leisten und nicht gegen sie verwendet werden.

 

Wie könnte ein erster Schritt aussehen, kritische Männlichkeit zu leben?

Nils: Als ersten Schritt würde ich die Bereitschaft, sich verunsichern zu lassen bezeichnen, gekoppelt mit der Neugier an und der Lust auf eine neue Welt. Wie fühlt sich Sex an, wenn ich nicht performe? Wer bin ich, wenn ich mich nicht dahinter verstecke, dass Männer angeblich immer dieses und niemals jenes tun? Wie toll wäre es eigentlich, sich für die Leistungen von Frauen zu begeistern, für schwule Helden, für Kümmern, Verschönerung und das eigene, tiefe Wohlergehen? Das ist alles schon mit deutlichen Wachstumsschmerzen verbunden, macht aber auch unglaublich viel Spaß.

Viele lernen ja schon in ihrer Kindheit, was für Erwartungen an das eigene Geschlecht geknüpft sind. Erziehung spielt bei dem Thema also sicherlich eine wichtige Rolle. Du selbst bist Vater uns hast ein Buch über Kindererziehung geschrieben. Kann man den eigenen Kindern das Thema schon „auf den Weg geben“?

Nils: Man kann es den eigenen Kindern vorleben. Kinder lernen weniger aus abstrakten moralisierenden Monologen als aus praktischer Anschauung. Dafür ist es wichtig, sich über die eigene Rolle klarzuwerden: Wer bin ich für mein Kind? Kennt es meine Werte, meine Ziele, meine Bedürfnisse? Kenne ich die meines Kindes. Das hat etwas mit Authentizität versus Vaterperformance zu tun. Meine Kinder wissen, wer ich bin, kennen meine Stärken und  Schwächen und fühlen sehr genau, wo ich weich und wo ich unnachgiebig bin. Sie wissen beispielsweise, dass ich diskriminierende Beschimpfungen und Gewalt nicht dulde. Sie wissen, dass sie für Klischees, Häme und derlei mehr von ihrer Mutter und mir keinen Applaus bekommen. Mir ist vollkommen egal, für wie unwichtig und uncool sie das halten. Das bin ich, das sind wir. In unserer Welt ist kein Platz für den Unfug, Dingen ein Geschlecht zu verpassen und Kindern anschließend aufzufordern, durch Konsum ihre Geschlechtsidentität zu belegen. Wir beschämen nicht, wir werten Menschen und ihre Bedürfnisse nicht ab. Wir fluchen und schimpfen, aber wir beleidigen damit keine Frauen oder Minderheiten, die damit nichts zu tun haben und noch nicht mal anwesend sind. Im Gegenzug schulden mir meine Kinder keine konforme Geschlechtsidentität, keinen speziellen Lebenswandel oder eine bestimmte Karriere. Das gehört mir alles nicht. Wenn alles gut läuft, lassen sie mich daran teilhaben, aber das reicht dann auch.

 

Vielen Dank für das spannende Interview!